Grenzgänger Frankreich
Die Grenzgängereigenschaft geht – bei einer Beschäftigung in der Grenzzone während des ganzen Kalenderjahres – nur dann nach Art. 13 V DBA-Frankreich verloren, wenn der Arbeitnehmer an mehr als 45 Arbeitstagen entweder nicht zum Wohnsitz zurückkehrt oder außerhalb der Grenzzone für seinen Arbeitgeber tätig ist. Dienstreisen außerhalb der Grenzzone führen auch insoweit zu Nichtrückkehrtagen, als sie im Ansässigkeitsstaat durchgeführt werden.
BFH, Urt. vom 17.03.2010 – I R 69/08 (NV) (Vorinstanz: Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10. 6. 2008 Az.: 11 K 21/06)
Gründe
I. Streitig ist die Anwendung der Grenzgängerregelung des Art. 13 Abs. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 (BGBl II 1961, 398) i.d.F. vom 28. September 1989 (BGBl II 1990, 772) -DBA-Frankreich- auf einen in Frankreich ansässigen und in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer.
Bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer KG mit Sitz in X/Deutschland, war in den Streitjahren 2001 bis 2003 als Verkaufsleiter der in Y/Frankreich wohnende Arbeitnehmer A beschäftigt. A führte in den Streitjahren an 75 (2001), 66 (2002) und 65 (2003) Tagen Dienstreisen außerhalb des in Art. 13 Abs. 5 Buchst. b DBA- Frankreich festgelegten Grenzgebiets (der sog. Grenzzone) durch, die nach den im Erörterungstermin beim Finanzgericht (FG) vorgelegten Aufstellungen u.a. auf folgende Tage entfielen:
2001 2002 2003
Dienstreisetage insgesamt 75 66 65
eintägige Dienstreisen mit Beginn und Ende am Wohnsitz (ohne Wochenenden) 3 10 8
Dienstreisetage mit Übernachtung (ohne Hinreisetage und Wochenenden) 28 17 19
Hinreisetage mit Abreise vom Sitz der Klägerin (ohne Wochenenden) 16 13 13
Rückreisetage mit Rückkehr zum Wohnsitz nach 17 Uhr (ohne Wochenenden) 3 7 6
Die Klägerin sah A in den Streitjahren als Grenzgänger i.S. des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich an und unterwarf dessen Arbeitslohn nicht dem Lohnsteuerabzug.
Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -FA-) gegenüber der Klägerin einen Haftungsbescheid für die Streitjahre über Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt … EUR. Er ging hierbei davon aus, dass sich A in den Streitjahren an jeweils mehr als 45 Tagen außerhalb des Grenzgebietes aufgehalten habe und daher nicht als Grenzgänger i.S. des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich anzusehen sei.
Der hiergegen erhobenen Klage gab das FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, mit Urteil vom 10. Juni 2008 11 K 21/06, veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1857, statt.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Dem Revisionsverfahren ist das Bundesministerium der Finanzen (BMF) beigetreten (§ 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO-). Das BMF hat keinen Antrag gestellt.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass A in den Streitjahren als Grenzgänger i.S. des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich mit seinen gesamten Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Frankreich zu besteuern und der angefochtene Lohnsteuer-Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist.
1. A war in den Streitjahren gemäß § 1 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes 1997/2002 (EStG 1997/2002) beschränkt steuerpflichtig; er unterlag gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG 1997 bzw. Nr. 4 Buchst. a EStG 1997 i.d.F. des Standortsicherungsgesetzes/§ 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG 2002 mit den in den Streitjahren erzielten Einkünften aus der im Inland ausgeübten nichtselbständigen Arbeit der Einkommensteuer. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) hatte A in den Streitjahren einen Wohnsitz in Frankreich und übte seine Arbeit im Inland für die Klägerin aus.
2. Entgegen der Auffassung des FG war die Ausübung des hiernach bestehenden Besteuerungsrechts im Streitfall nicht durch Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich eingeschränkt. Denn A ist in den Streitjahren nicht als Grenzgänger anzusehen.
a) Nach Art. 13 Abs. 5 Buchst. a DBA-Frankreich können Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaates arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie in der Regel jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaates haben, abweichend von Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich nur in diesem anderen Staat besteuert werden. Das Grenzgebiet umfasst nach Art. 13 Abs. 5 Buchst. b DBA-Frankreich die Gemeinden, deren Gebiet ganz oder teilweise höchstens 20 km von der Grenze entfernt liegt; die Grenzgängerregelung ist auch für alle Personen anwendbar, die ihre ständige Wohnstätte in den französischen Grenzdepartements haben und in deutschen Gemeinden arbeiten, deren Gebiet ganz oder teilweise höchstens 30 km von der Grenze entfernt liegt (Art. 13 Abs. 5 Buchst. c DBA-Frankreich). A hatte nach den Feststellungen des FG seine ständige Wohnstätte in einem französischen Grenzdepartement und war im Grenzgebiet in Deutschland beschäftigt (vgl. allgemein BMF-Schreiben vom 11. Juni 1996, BStBl I 1996, 645).
b) Ein Arbeitnehmer verliert die Grenzgängereigenschaft nicht bereits dadurch, dass er nicht täglich von seinem Arbeitsort im Grenzgebiet an seinen Wohnsitz zurückkehrt. Die Nichtrückkehr des Arbeitnehmers an einem Arbeitstag ist insoweit unschädlich, wenn die Summe der Arbeitstage, an denen es an einer solchen Rückkehr fehlt, eine Höchstgrenze nicht überschreitet. Zur Festlegung der Höchstgrenze für diese sog. Nichtrückkehrtage kann auf die Verständigungsvereinbarungen zwischen den Vertragsparteien zur Anwendung der Grenzgängerregelung zurückgegriffen werden (Senatsbeschluss vom 25. November 2002 I B 136/02, BFHE 201, 119, BStBl II 2005, 375). Danach geht die Grenzgängereigenschaft -bei einer Beschäftigung in der Grenzzone während des ganzen Kalenderjahres- nur dann verloren, wenn der Arbeitnehmer an mehr als 45 Arbeitstagen entweder nicht zum Wohnsitz zurückkehrt oder außerhalb der Grenzzone für seinen Arbeitgeber tätig ist (BMF-Schreiben vom 3. April 2006, BStBl I 2006, 304 Tz. B 2.; vgl. bereits BMF-Schreiben vom 20. Februar 1980, BStBl I 1980, 88).
Der Senat hat mit dem Urteil vom 11. November 2009 I R 84/08 (BFHE 227, 410, BStBl II 2010, 390) entschieden, dass eintägige Dienstreisen außerhalb der Grenzzone zu Nichtrückkehrtagen führen, wenn der Arbeitnehmer an diesen Tagen nicht zugleich innerhalb der Grenzzone gearbeitet hat; bloße Transferreisen innerhalb der Grenzzone sind insoweit unbeachtlich. Dies gilt in gleicher Weise für Rückreisetage bei mehrtägigen Dienstreisen außerhalb der Grenzzone. Hinreisetage bei mehrtägigen Dienstreisen außerhalb der Grenzzone zählen nur dann zu den Nichtrückkehrtagen, wenn der Arbeitnehmer nicht vor der Abreise zwischen seinem Wohnsitz und dem Arbeitsort in der Grenzzone gependelt ist.
c) Nach diesen Grundsätzen hat A durch seine Dienstreisen außerhalb der Grenzzone in den Streitjahren die Höchstgrenze von 45 Nichtrückkehrtagen überschritten.
Nach den Feststellungen des FG hat A in den Streitjahren an drei (2001), zehn (2002) und acht (2003) Tagen eintägige Dienstreisen außerhalb der Grenzzone durchgeführt, die am Wohnsitz des A begannen und endeten. A hat an diesen Tagen seine Arbeit nicht zugleich in der Grenzzone ausgeübt. Dies gilt in gleicher Weise für die Tage, an denen er von mehrtägigen Dienstreisen außerhalb der Grenzzone an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist (2001: drei Tage, 2002: sieben Tage, 2003: sechs Tage). An den Hinreisetagen von mehrtägigen Dienstreisen außerhalb der Grenzzone ist A jedenfalls an den Tagen nicht vor der Abreise zwischen seinem Wohnsitz und dem Arbeitsort am Sitz der Klägerin hin und her gependelt, an denen er die Dienstreise vom Sitz der Klägerin aus angetreten hat (2001: 16 Tage, 2002 und 2003: jeweils 13 Tage). Einschließlich der weiteren Dienstreisetage mit Übernachtungen außerhalb der Grenzzone (2001: 28 Tage, 2002: 17 Tage, 2003: 19 Tage) liegen damit im Streitfall insgesamt 50 (2001), 47 (2002) und 46 (2003) Nichtrückkehrtage vor.
Entgegen der Auffassung des FG führen Dienstreisen außerhalb der Grenzzone auch insoweit zu Nichtrückkehrtagen, als A sie im Ansässigkeitsstaat durchgeführt hat. Denn die für die Beurteilung der Nichtrückkehrtage maßgebliche Verständigungsvereinbarung in BStBl I 2006, 304 stellt allein darauf ab, ob der Arbeitnehmer -bei eintägigen Dienstreisen und bei Rückreisetagen- ganztägig außerhalb der Grenzzone tätig geworden oder -bei Dienstreisetagen mit auswärtiger Übernachtung- nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist. Der Zweck der Grenzgängerregelung steht der Einbeziehung der Dienstreisetage mit auswärtiger Übernachtung im Ansässigkeitsstaat in die Berechnung der Nichtrückkehrtage nicht entgegen, da es hierfür nicht auf die Beziehung des Arbeitnehmers zum Ansässigkeitsstaat als solchem, sondern allein darauf ankommt, ob die persönliche Bindung des Arbeitnehmers an den Wohnort gelockert wird (vgl. zu Art. 15a DBA-Schweiz 1992 Senatsurteil vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 449). Soweit die Berücksichtigung von Nichtrückkehrtagen auf der ganztägigen Tätigkeit außerhalb der Grenzzone beruht, bleibt zwar die persönliche Bindung an den Wohnort infolge der Rückkehr des Arbeitnehmers an den Wohnsitz erhalten; dies gilt jedoch unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer hierbei im Ansässigkeitsstaat tätig geworden ist. Tätigkeiten im Ansässigkeitsstaat zählen daher nur insoweit nicht zu den Nichtrückkehrtagen, als sie vom Arbeitnehmer innerhalb der dortigen Grenzzone ausgeübt worden sind (BMF-Schreiben in BStBl I 2006, 304 Tz. B 3.).
3. Das FG ist von einer anderen rechtlichen Beurteilung der abkommensrechtlichen Zuordnung des Besteuerungsrechts ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Sache ist spruchreif. Der Lohnsteuer-Haftungsbescheid des FA ist rechtmäßig. Das Besteuerungsrecht für die Einkünfte des A aus der im Inland ausgeübten Tätigkeit für die Klägerin steht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich in den Streitjahren Deutschland zu. Die entsprechenden Einkünfte des A unterliegen gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 1997/2002 der Lohnsteuer. Über die Höhe der von der Klägerin einzubehaltenden und abzuführenden Lohnsteuer besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Die Inanspruchnahme der Klägerin als Arbeitgeberin des A nach § 42d EStG 1997/2002 ist schließlich nicht ermessensfehlerhaft; dies ergibt sich aus den Ermessenserwägungen in der Einspruchsentscheidung des FA. Dort ist ausgeführt, dass eine Veranlagung des A zur Einkommensteuer aufgrund der beschränkten Steuerpflicht nach § 50 Abs. 5 EStG 1997/2002 ausscheide (vgl. Senatsurteil vom 20. Juni 1990 I R 157/87, BFHE 161, 117, BStBl II 1992, 43, unter II.2.b) und die Klägerin sich ferner damit einverstanden erklärt habe, als Haftende anstelle des A in Anspruch genommen zu werden (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 7. Dezember 1984 VI R 72/82, BFHE 142, 494, BStBl II 1985, 170, unter 2.b dd; BFH-Beschluss vom 19. Juli 1995 VI B 28/95, BFH/NV 1996, 32).
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